Die 3. Tradition der Anonymen Alkoholiker – Die Geschichte der Irma Livoni

Die Geschichte von Irma Livoni, erzählt von Matt, M ein Sponsor von Sybil, C

Hier ist die Geschichte über Irma Livoni. Jedes Jahr um diese Zeit erzähle ich diese wahre Geschichte was nicht nur am 7. Dezember 1941 in Pearl Harbor geschah, sondern auch von dem, was einer der wenigen Frauen, die damals bei den Anonymen Alkoholikern waren, geschah, und über den Brief, den sie am Montag, den 8. Dezember 1941 bekam und der sie aus AA geworfen hatte.

Im Dezember 1984 war ich zweieinhalb Jahre trocken und arbeitete seit Januar mit meinen Sponsoren Bob und Sybil Corwin. Sybil wurde im März 1941 trocken, sie war also damals 43 Jahre trocken. Wir waren auf dem nach Weg nach Hause von einem Meeting und da fragte sie mich nach dem Datum. Ich sagte, dass wir den 8. Dezember hatten, also einen Tag nach dem Jahrestag zu Pearl Harbor.

Sie sagte Matt, hab ich Dir schon einmal von Irma Livoni erzählt?

Nein, wer ist sie?

Sie sagte, dann komm später mit rein auf einen Kaffee und wenn wir da sind, dann erzähle ich Dir etwas über die AA Geschichte und warum es die Dritte Tradition gibt und übrigens Matt: weist Du, dass in unserer Literatur besonders ‚Querköpfe, Spinner und gefallene Mädchen‘ beschützt werden? Und da gerade wir zwei dazu gehören, sollten wir besonders dankbar für die 3. Tradition sein. Ich zeig es Dir, wenn wir nach Hause gekommen sind.

Ich lachte laut auf, weil Sybil einen großartigen Sinn für Humor hatte. Sie war eine der “Taxi Tänzerinnen” gewesen, eine von den “10 Cents pro Tanz” – Mädchen bevor sie nüchtern wurde. Sie war zweimal geschieden, eine allein erziehende Mutter, dazu Alkoholikerin, also: ein “gefallenes Mädchen” traf es ganz gut. Sie erzählte, dass es damals in den 30er und 40er Jahren ganz anders war, als Frau eine Alkoholikerin zu sein. Sybil sagte, zu dieser Zeit trugen Frauen Hüte und Handschuhe und anständige Frauen waren nicht in Kneipen zu finden, auch nicht auf ausschweifenden Partys.

Unser Donnerstags-Schritte-Meeting hatte beschlossen, nach dem 12 Schritt nicht über die Traditionen zu sprechen, so das ich dachte, dass die Traditionen wohl nicht so wichtig wären und ich mich damit langweilen würde. Aber als sie erwähnte, dass da „Querköpfe, Spinner und gefallene Mädchen“ vorkamen, fand ich es doch so spannend, dass ich noch zu einer Tasse Kaffee mitging.

Sybil war zu dieser Zeit länger trocken, als ich alt war. Ich stritt mit ihr sehr wenig. Sybil holte dann ihr Big Book und lies mich nach den Traditionen suchen. Sie hatte die erste Ausgabe, diese war dicker als meine und ich fragte: Ist es deshalb, warum sie es das ‚Big Book‘ (Dickes Buch) nennen?

Sie sagte: Genau. Bill hat es auf dicken Papier mit breiten Rändern gedruckt, damit die Leute glauben, dass sie wirklich etwas bekommen für ihr Geld. Ich schaute in den hinteren Teil des Buches, wo ich meinte da stehen die Traditionen, konnte sie aber nicht finden.

Ich finde keine Traditionen, Sybil.

Genau, weil wir damals 1941 als ich dazukam, noch keine Traditionen hatten und Matt, AA war damals in großer Gefahr sich selbst zu zerstören, darum gibt es heute die Traditionen. Dann bat sie mich in meiner 3. Ausgabe des Big Book meiner 12 & 12 die Traditionen suchen. Und als ich anfing zu lesen, begann sie mit der Geschichte von Irma Livoni.

Irma wurde gesponsert von Sybil. Sie war 1941 kurz nach Sybil zu AA gekommen. Sie nahm sie mit nach Hause (Sybil erzählte mir, dass damals viele Menschen sehr weit „unten“ waren: kein Zuhause, keine Arbeit, keine Uhr, kein Auto, nichts). Sybil sagte, es war damals etwas anderes für eine Frau Alkoholikerin zu sein. Die meisten hatten alle Bindungen zur Familie verloren und wurden verachtet, noch mehr als männliche Alkoholiker. Sybil hatte miterlebt wie AA ihr half, sah wie sie trocken wurde, ihre erste Arbeit fand und wie sie nüchtern ihre erste Wohnung bekam.

Dann erzählte sie, das am 5. Dezember 1941 eine selbsternannte Gruppe von AA-Mitgliedern einen Brief an Irma schrieb, den sie zwei Tage vor dem Pearl Harbor Tag an diesem Freitag, den 5. Dezember, abschickten.

Hier der Wortlaut des Briefes:

ANONYME ALKOHOLIKER

Postfach607

Hollywood Station
Hollywood, California

5. Dezember 1 9 4 1

Irma Livoni
939 S. Gramercy Place
Los Angeles, California

Sehr geehrte Frau Livoni,

bei einem Meeting des Exekutivkomitees der Los Angeles Gruppe der Anonymen Alkoholiker, welches am 4. Dezember 1941 stattfand, wurde beschlossen, dass Ihre Teilnahme an Gruppentreffen nicht länger erwünscht ist, bis bestimmte Erklärungen und Auskünfte zu unserer Zufriedenheit des Komitees gemacht werden. Dieses Vorgehen wurde aus Gründen, die Ihnen selbst klar sein dürfte, getroffen.

Es wurde beschlossen, dass Sie, wenn Sie es wünschen, vor den Mitgliedern dieses Komitees erscheinen können, um Ihre Haltung zu erklären. Dazu wird Ihnen von heute bis zum 15. Dezember 1941 Gelegenheit gegeben. Sie können sich mit uns über die oben angegebene Adresse in Verbindung setzen.

Für den Fall, dass Sie nicht erscheinen, gehen wir davon aus, dass die Angelegenheit abgeschlossen ist und Ihre Mitgliedschaft bei AA beendet ist.

Anonyme Alkoholiker

Los Angeles Gruppe
Mortimer Joseph
Frank Randall
Edmund Jussen Jr.
Fay D. Loomis
Al Marineau

 

Ich war wie betäubt. Wie konnten sie so etwas tun, Sybil?

Weil wir keinerlei Richtlinien hatten, keine Traditionen, um uns vor ‚guten Absichten‘ zu schützen. AA war sehr neu und die Leute haben alles mögliche getan im Glauben, damit die Gemeinschaft zu beschützen.

Dann sagte Sybil, schließe deine Augen und versuche dich in folgende Situation hinein zu versetzen:

Der 7. Dezember 1941 war ein Sonntag, der Pearl Harbor Tag. An diesem Sonntag hatten alle in Los Angeles Angst, dass auch ihre Stadt angegriffen und bombardiert würde. Es gab einen Stadtweiten Stromausfall, welcher die Menschen erschreckte. Am 8. Dezember hielt Präsident Roosevelt die Rede über „das Datum der Schande“ und das wir jetzt im Krieg mit Japan und Deutschland stehen.

Das, so sagte Sybil, war der Tag an dem Irma den Brief erhielt. Es gab nur ein einziges Meeting im ganzen Staat Kalifornien, als Sybil zu AA kam. Im Dezember mögen es zwei oder drei gewesen sein, aber Irma hatte nichts wo sie sonst hätte hingehen können, niemanden an den sie sich wenden konnte. Keine andere Gruppe in Kalifornien, zu der sie hätte gehen und um Hilfe bitten konnte.

Sybil sagte, Stell Dir vor, nur ein oder zwei Meetings in Deinem ganzen Staat, gemieden von deiner Familie und der Gesellschaft und ein Nein von der einzigen Gruppe Menschen die auf Deiner Seite waren, deiner AA Gruppe. Stell Dir vor, sie machen die Tür vor Dir zu und schicken Dir so einen Brief.

Ich schauderte bei dem Gedanken daran. Es war Weihnachtszeit, die Läden waren geschmückt und die arme Irma war ganz allein. Ich dachte daran, wie es 1984 mit über 2000 Meetings pro Woche ist die in Süd-Kalifornien zur Auswahl stehen und dann stellte ich mir vor, keinerlei Hilfe für einen hoffnungslosen Alkoholiker zu haben.

Sybil erzählte mir, dass Irma nie wieder zu einem AA Meeting ging und am Alkoholismus starb. Sie schrieb an Bill über diesen Vorfall und ich weiß nicht, ob es der Grund war, dass heute folgendes Teil der 3. Tradition ist, aber es könnte durchaus so sein:

Aus der 3. Tradition  Seite 141:

————————————————————————————————————————————————
… dass wir weder bestrafen, noch irgendeinem AA die Mitgliedschaft entziehen, dass wir niemals jemanden zwingen, irgendetwas zu bezahlen, irgendetwas zu glauben oder sich nach irgendetwas zu richten.

————————————————————————————————————————————————

Die Antwort, wie wir sie heute in der 3. Tradition stehen haben, ist einfach. Letztlich hat uns die Erfahrung gelehrt, dass es manchmal das Todesurteil sein kann, einem Alkoholiker die Chance der Mitgliedschaft zu verwehren und oft bedeutet dies, ihn zu endlosem Elend zu verdammen. Wer wagt es, Richter, Jury und Scharfrichter seines eigenen kranken Bruders zu sein?

RICHTER, JURY UND SCHARFRICHTER

Ich sehe diese Worte wieder und wieder und sie scheinen größer und größer zu werden

RICHTER, JURY UND SCHARFRICHTER
RICHTER, JURY UND SCHARFRICHTER
RICHTER, JURY UND SCHARFRICHTER

Ich hatte den SCHARFRICHTER nicht bemerkt, als ich in meiner 12 & 12 Studiengruppe das erste mal die Traditionen las. Ich fühle mich schlecht im Gedanken an die arme Frau.

Inzwischen haben die Worte in der Tradition eine andere Bedeutung für mich. Jetzt, 23 Jahre später, denke ich jeden 7. und 8. Dezember an Irma Livoni und ich bin glücklich, daß wir inzwischen die Traditionen haben. Ich denke daran, wie glücklich ich war, Sybil zu treffen und dass sie sich als meine Sponsorin zur Verfügung stellte. Jahre später wurde mir klar, dass alles was sie mir beibrachte, wie Gold war. 1984 hatte ich keine Ahnung wer Sybil wirklich war und wie glücklich ich sein konnte, sie als Sponsorin zu haben. Sie war wie ein Teil lebendiger Geschichte, aber ich hatte nicht wirklich verstanden wie wertvoll das war beim Erklären warum wir manche Dinge so tun. (Genauso wie die Geschichte, wie sie damals nie „Hi Sybil“ und niemals „Mein Name ist Matt, ich bin Alkoholiker“ sagten).

Neben der Tatsache, dass Sybil eine der ersten Frauen in AA war, war sie auch die allererste Frau westlich des Mississippi bei AA. Sie wurde Leiter des Gemeinsamen Büros von Los Angeles, und sie war eine enge Freundin von Bill und Lois. Sie machte auch Urlaub mit ihnen und Dr. Bob. Sie erzählte mir alle möglichen Geschichten über Bill Wilson und den Dingen, die er ihr sagte. Er war sehr daran interessiert, wie AA für Frauen funktionierte, besonders da es 1941 weltweit nur wenige Frauen in AA gab. Marty Mann kam schon vor Sybil, aber nur wenige blieben trocken.

Ich lernte in dieser Nacht, dass niemand aus AA herausgeworfen werden darf. Wir können einen störenden nassen Betrunkenen bitten, sich zu benehmen oder wir können ihn bitten, an diesem Tag draussen zu bleiben, aber wir dürfen niemals jemanden für immer ausschließen. Unsere Traditionen sagen, dass niemand etwas glauben muss (niemand muss wie ich sein) und niemand muss sich irgendwo einfügen (Du musst Dich nicht in bestimmter Weise kleiden, eine bestimmte Frisur haben oder etwas bezahlen). Selbst wenn ich wieder betrunken bin, bin ich in jedem AA Meeting willkommen.

Das ist die Geschichte von Irma Livoni. Gib sie weiter an jeden den es interessiert wie und warum die Traditionen entstanden.

Ich glaube sie gibt der 3. Tradition ein Gesicht. Das Gesicht einer Frau, die ich nie traf und die aus AA herausgeworfen wurde. Einer Frau, die wieder trank und starb. Gott sei Dank haben wir die 3. Tradition und ich danke Gott für alles. Ich bin dankbar für die Zugehörigkeit in dieser Gruppe.

In Liebe zu AA, zu euch allen.

Matt

 

Original von http://www.barefootsworld.net