Der Trockenrausch

Der umfassend verstandene Fachausdruck „Trockener Rausch“ wird oft auf den Alkoholiker angewendet, dem es nicht gut geht, obwohl er nicht trinkt. Das Krankheitsbild des trockenen Rausches besteht aus einer Reihe von Symptomen, die gleichzeitig auftreten und ein abnormes Verhalten kennzeichnen. Da das Psychopathische in den Ansichten und dem Verhalten des Alkoholikers während der Zeit seines Trinkens allgemein erkannt wird, wird das Fortbestehen dieser Charakterzüge, nachdem der Alkoholiker das Trinken aufgegeben hat, ebenso psychopathisch zu beurteilen sein.

Der Ausdruck „Trockenrausch“ bezeichnet daher das Ausbleiben einer Wandlung in eine erstrebenswerte Richtung in Haltung und Verhalten des Alkoholikers, der nicht mehr trinkt. Die Folge des Ausbleibens dieser angestrebten Wandlung ist, daß der Alkoholiker Schwierigkeiten in seinem Leben hat. Der „trockene Rausch“ kann bei jedem Alkoholiker vorkommen; im folgenden Text wird vorausgesetzt, daß Männer und Frauen ihm gleichermaßen ausgesetzt sind. Es kann keinen Zweifel über die Ursache dieser Schwierigkeiten geben.

Erkennbare Anzeichen

Ein deutliches Kennzeichen des Alkoholikers im Trockenrausch ist sein großspuriges Benehmen. Diese Großspurigkeit äußert sich sehr oft in einem nicht einsichtsvollen und sich selbst überschätzenden Verhalten, das andere verletzt oder ihnen sogar komisch erscheint. Indem er alles in seiner Umgebung auf sich selbst bezieht, scheint der Alkoholiker unfähig zu sein, die Bedürfnisse und das Feingefühl seiner Mitmenschen zu sehen. Er kann fortwährend auf ihre Kosten selbstüberheblich sein oder seine Fähigkeiten überschätzen oder über seine Mittel leben; in jedem Fall ist sein Verhalten deutlich nicht realitätsbezogen und kann je nach den Umständen in seiner Auswirkung vom Spaßhaften bis zum Boshaften variieren.

Offensichtlich verwandt mit dem großspurigen Benehmen des Alkoholikers ist seine Art, strenge und fertige Urteile zu haben. „Fertige Urteile“ in diesem Zusammenhang heißt, daß der Alkoholiker geneigt ist, Ansichten gewöhnlich mit den Ausdrücken „gut“ oder „schlecht“ zu äußern, Ansichten, die sehr deutlich nicht zur Realität passen.

Da er geneigt ist, mit sich selbst scharf zu Gericht zu gehen (besonders was sein Trinken betrifft), können andere manchmal fühlen, daß er ein tiefes Gefühl der eigenen Wertlosigkeit hat. Dies Gefühl ist jedoch oberflächlich verkleidet, da der Alkoholiker die gleichen strengen Wertmaßstäbe auf seine Familie, seine Verwandten, Freunde, Kollegen und seinen Arbeitgeber anwendet wie auf sich selbst. Sie fühlen mit gewissem Recht, daß er sich am wenigsten Kritik leisten kann, und dies allein ist der genügende Beweis, daß seine Haltung im Grunde nicht realitätsbezogen ist, egal ob seine Urteile nun in Wirklichkeit einen gewissen Gehalt an Wahrheit haben.

Der Alkoholiker kann weiterhin äußerst ungeduldig sein. Ungeduld kennzeichnet seine Reaktionen anderen gegenüber und dem Leben selbst, ein Verhalten also, das nicht wirklichkeitsbezogen ist, da es die augenblickliche Erfüllung seiner Forderungen notwendig macht. Es ist typisch, daß der Alkoholiker sofortige Belohnung für sein Bemühen und augenblickliche Erleichterung seiner Belastung und Schwierigkeiten erwartet. Anzeichen der Ungeduld sind sein Zorn oder seine Niedergeschlagenheit, wenn die gesuchte Erfüllung nicht schnell genug kommt. Großspurigkeit, vereinfachte Urteile und Ungeduld kennzeichnen die Ansichten und das Verhalten des Alkoholikers.

Und diese Züge sind so fest in seinem Leben verankert, daß sie anderen oft regelrecht als kindisch erscheinen. Ganz wörtlich: er ist in vieler Hinsicht ein Kind. Er wird leicht gelangweilt, abgelenkt und verwirrt. Sein Erfolg auf lange Sicht wird dauernd durch das momentane Wechseln seiner Gefühle  gefährdet; zu jeder Zeit ist es möglich, daß er seine „Murmeln oder Klicker“ nimmt und nach Hause geht. Er kann unfähig sein, Dinge zu schätzen, an denen sich reife Menschen erfreuen, z.B. Lesen, Gespräche oder ein Film oder Theaterstück. Seine Begeisterungsfähigkeit ist sehr oft die eines Kindes in Ausdauer und Stärke. Die Unzufriedenheit scheint sein dauernder Lebenszustand zu sein.

Auswirkungen in der Familie

Der Alkoholiker, der einen „trockenen Rausch“ hat, scheint unfähig zu sein, sich selbst realistisch einzuschätzen. Dies bedeutet, daß er in den meisten Fällen nicht fähig ist, sich so zu sehen, wie andere ihn sehen. Wie sehr er auch in Schwierigkeiten ist, beharrt er trotzdem darauf, sich selbst als schuldlos oder als Opfer der Umstände, die über seine Kontrolle hinausgehen, zu empfinden.

Je fester er von seiner Schuldlosigkeit überzeugt ist, desto zäher und klüger wird seine Ablehnung der Hilfe sein, da der erste Schritt zur Wiederherstellung einer normalen Situation darin besteht, daß er die Verantwortung dafür auf sich nimmt. Das unmittelbare Problem für die, die ihm ernsthaft helfen wollen, besteht darin, Bedingungen zu ermöglichen, unter denen er beginnen kann, eine realistische Selbsteinschätzung zu erreichen. (Wie diese Selbsteinschätzung erreicht werden kann, soll später erörtert werden.)

Unglücklicherweise kann die Familie des Alkoholikers diese Bedingungen nur sehr schwer herstellen. Der Alkoholiker ist wieder Mittelpunkt vieler Familienstreitigkeiten.  Die Reaktion der Familie auf sein Verhalten kann von Entmutigung und Bestürzung bis hin zur Niedergeschlagenheit, Empörung und Bitterkeit reichen. In einer von Aggressionen geladenen Atmosphäre ist die Familie gewöhnlich nicht fähig, den Alkoholiker leidenschaftslos zu sehen; objektiv in Ihrem Verhalten gegen den Alkoholiker zu bleiben, wird äußerst schwierig, wenn nicht gar unmöglich.

Das Verhalten des Alkoholikers war als im allgemeinen unrealistisch beschrieben worden; gerade die Objektivität, die die Familie ihm nicht geben kann, braucht er verzweifelt. In einigen Fällen kann es notwendig sein, den Alkoholiker zu überreden, sich selbst als Hilfe anzubieten. Die auf sich selbst gestellte Familie, die versucht, diesen Heilungsprozeß durchzuführen, steht oft vor erschreckenden Folgen für den Alkoholiker und für sich selbst.

Die am meisten befriedigende Alternative für alle Betroffenen ist, Hilfe außerhalb der Familie zu suchen. Das sind unter anderem Heilstätten, Beratungsstellen, Al-Anon-Familiengruppen und der AA-Sponsor des Alkoholikers, wenn er einen hat. (Beratungsstellen und Heilstätten wohl nur in größeren Städten, Al-Anon und AA sind fast überall erreichbar.) AA ist die erste und beste Quelle einer sofortigen Hilfe. Die Heilstätten versorgen die Familien mit Informationsmaterial, Hilfe bei der Entscheidung über die Notwendigkeit der Behandlung eines Alkoholikers und sind darauf spezialisiert, ihm die angemessenen Möglichkeiten einer Therapie zu geben.

Die Beratungsstellen sind mit geschulten und qualifizierten Leuten besetzt, die Spezialisten für das Alkoholproblem sind. Diese Stellen sind so ausgerüstet, daß sie dem Alkoholiker helfen, mit seiner besonderen Situation fertig zu werden. Meistens arbeiten sie in der Art einer ambulanten Behandlung.

Die Al-Anon-Familiengruppen unterstützen die Versuche der Familie, den Alkoholiker wirkungsvoll zu behandeln. Solche Gruppen sind besonders wertvoll, wenn sich der Alkoholiker in seinem Widerstand gegen Hilfe von außen als besonders halsstarrig erweist. Sie sind weitgehend mit der Therapie des „trockenen Rausches“ vertraut und können die Familie mit einer Fülle praktischer Informationen versehen.

In einigen Fällen kann auch der AA-Sponsor des Alkoholikers eine unschätzbare Hilfsquelle sein. Er ist gewöhnlich mit den Schwierigkeiten der Familien und des Alkoholikers vertraut und kann so helfen, Entscheidungen zu fällen. Unter den richtigen Umständen kann es ihm gelingen, den Alkoholiker zu überzeugen, selbsttätig zu handeln und Hilfe zu suchen.

Es soll hier angemerkt werden, daß gelegentlich der Alkoholiker, der AA-Erfahrungen hat und sich der geistigen Anspannung bewußt ist, die mit dem trockenen Rausch auftritt, instinktiv versucht, seine Kontakte zu AA zu vertiefen. Wenn dies geschieht, kann es vorkommen, daß Familienmitglieder oder Freunde, die um ihrer selbst willen finden, daß der Alkoholiker schon genug Zeit in AA verbringt, sich seiner verstärkten Beschäftigung mit AA widersetzen. Ihnen sei gesagt, daß wenn der Alkoholiker nicht von selbst seine Beziehungen zu AA vertieft, sich mit großer Wahrscheinlichkeit ein Rückfall ins Trinken abzeichnet.

Definition

Der „trockene Rausch“ ist ein Ausdruck, der aus zwei für den Alkoholiker bedeutsamen Worten zusammengesetzt ist. „Trocken“ in der einfachsten Bedeutung heißt, daß er sich vom Alkohol fernhält, während „Rausch“ eine tiefe pathologische Voraussetzung meint, die sich aus seinem Alkoholgenuß ergibt. Zusammengenommen bedeuten die Wörter eine Intoxikation ohne Alkohol.

Da das Wort „Intoxikation“ vom griechischen „Gift“ abgeleitet wird, bezeichnet der Ausdruck  „trockener Rausch “ einen Geisteszustand und eine Verhaltensweise, die „giftig“ und deshalb „tödlich“ für das Wohlergehen des Alkoholikers ist. Solches Verhalten kommt allerdings auch im Leben von Nichtalkoholikern vor, z.B. der Geschäftsmann, der sich in einer Verkehrsstockung voller Ärger wie wild auf die Hupe wirft; auch die Hausfrau, die zu ihrem Leidwesen jeden Montag dreissig Jahre lang die Wäsche der Familie waschen muß und folglich die Familie dafür anklagt, sie schmutzig zu machen, scheint ihre Aufgabe in der Familie nicht richtig einzuschätzen.

Beide zeigen ein Verhalten, das nicht der Realität entspricht und der Situation nicht angemessen ist. Die selbstdestruktive Verhaltensweise des im „trockenen Rausch“ befindlichen Alkoholikers ist verschieden im Grad ihrer Intensität, aber nicht in ihrer Art. Der Alkoholiker hat sich in den Jahren seines Trinkens eine äußerst unangemessene und absolut unreife Art angewöhnt, Lebensprobleme zu lösen.

Verlauf

Wenn der Alkoholiker offensichtlich unzufrieden mit sich selbst ist, aber nicht weiß warum, zeigt sich die fehlende Selbsterkenntnis ganz deutlich. Sehr oft scheinen die Schwierigkeiten eines vergangenen Lebens die Gegenwart zu vergiften, und sie wirken sich direkt auf sein augenblickliches Gefühl aus. Er mißbilligt streng ein Verhalten, das die Gesellschaft als niedrig, unkontrolliert, selbstsüchtig und verachtenswert bezeichnet.

Aber er kann und will sich nicht die Impulse zu eigen machen, die solch ein Verhalten korrigieren würden. Anstatt die Wirklichkeit anzunehmen, versucht er lieber, seine Selbstachtung zu retten, indem er sagt: „All das kann gar nicht wahr sein.“ Aber dieser Schachzug ist nicht  ganz erfolgreich, weil er erkennt, daß gewisse Gefühle, Regungen, Wünsche usw. unannehmbar für ihn sind; so ergibt sich ein Widerspruch aus dem,  was er unklar als Wahrheit erkennt (über seine Gefühle, Regungen, Wünsche usw.) und was ihm seine Selbstachtung erlaubt, als Wahrheit anzunehmen.

Dieser Widerspruch ist untragbar auf jeder bewußten Ebene; so verdrängt er ihn aus seinem Bewußtsein und nimmt zu verschiedenen Manövern Zuflucht, die verhindern sollen, ihn offen einzugestehen. Soweit es diesen Manövern gelingt, das zu verhüllen, was der Selbstachtung des Alkoholikers im Wege steht, wird er gar nicht merken, daß er sie ausführt.

Es kann sogar zu einem regelrechten Leugnen der Wahrheit gegenüber sich selbst und anderen kommen. Er kann manchmal alle Tatsachen wissen, wird Ihre wirkliche Bedeutung aber doch nicht richtig erkennen. Er sieht nicht den tieferen Sinn einer Feststellung, wie: „Ja, ich bin jetzt drei Jahre in AA und es hat mir wirklich sehr geholfen, obwohl ich neunmal „umgefallen“ bin.“

Er fängt oft an, spitzfindig zu argumentieren. Bei diesem Manöver versucht er seine Selbstachtung dadurch abzustützen, daß er die Kritik anderer durch Scheingründe zerstreut. Wie abwegig seine Verhaltensweise auch sein mag, der Alkoholiker rechtfertigt sich jedes Mal. So hat er auch zahlreiche „Gründe“, AA zu meiden, und jeder Grund kann einleuchtend sein, aber die gesamte Argumentation ist nur dazu da, um  die tiefere Wahrheit zu leugnen, daß er AA oder andere Hilfe von außen braucht.

Der Alkoholiker, der seine eigene Unverantwortlichkeit wegargumentiert, wird wahrscheinlich auch die Verhaltensweise anderer falsch einschätzen. Obwohl er seine Unzulänglichkeiten nicht leugnet, versucht er, die Aufmerksamkeit von ihnen dadurch abzulenken, daß er in großer Ausführlichkeit die Fehler seiner Familie, seiner Freunde, seines Arbeitgebers und der Behörden aufzählt.

Dies geht so weit, daß er sich darin erschöpft, andere mit sich selbst zu vergleichen. Er versagt, weil er den klaren Blick verliert; er ist nicht wirklich an einer Wandlung interessiert, sondern will vielmehr mit einiger Berechtigung sagen können: „Nun, ich bin gar nicht so anders als die anderen.“

Das Manöver der Übertragung ist oberflächlich ganz ähnlich, aber in Wirklichkeit viel unnormaler. Hier überträgt der Alkoholiker auf andere, was er selbst nicht annehmen kann. Diese Taktik setzt ein hohes Maß fehlender Selbsterkenntnis voraus, weil der Alkoholiker versucht, sich seiner unannehmbaren Empfindungen und Motive dadurch zu entledigen, daß er sie in anderen „erkennt“.

Er interpretiert ihr Verhalten als von Gefühlen motiviert, die er im Unterbewußtsein als falsch bei sich selbst erkennen muß. Oder er unterstellt anderen, eine äußerst unkritische Haltung anzunehmen, die in Wirklichkeit die eigene Haltung gegen sich selbst ist. Er kann im Rahmen dieses Manövers andere anklagen, ihn betrunken machen zu wollen. Er kann AA-Freunde des Trinkens bezichtigen, oder er kann anderen vorwerfen, daß sie ihn in Verdacht haben zu trinken. In gewissen Situationen kann der Alkoholiker übermäßig reagieren.

Dies ist das klassische Verhalten des Alkoholikers im trockenen Rausch. Dabei reagiert der Alkoholiker auf ein gewöhnlich unbedeutendes Ereignis oder Mißgeschick mit einer offensichtlich unangemessenen Gefühlsintensität. Er kann von haßerfüllter Empfindlichkeit gegenüber einem Vorgesetzten schon aus einem nicht ersichtlichen oder belanglosen Grunde sein.

Er kann auf das Verlieren beim Kartenspiel oder das Verpassen eines Telefonanrufes mit außergewöhnlicher Heftigkeit reagieren. Indem er das tut, scheint er aufgestaute Enttäuschungen, Zorn und Empfindlichkeit an einem Objekt zu entladen oder in einer Situation, die ihn irgendwie an eine größere Enttäuschung in seinem Leben erinnert. Im Falle des Alkoholikers gibt es wenig Zweifel über die Art dieser vorherrschenden Enttäuschung.

Andererseits scheinen einige Alkoholiker, die den trockenen Rausch an sich selbst erfahren, alle Antworten auf ihre Probleme zu wissen. Sie sind selten um Worte verlegen, wenn es zu einer Selbstdiagnose kommt. Oft ist ihr Wissen ziemlich eindrucksvoll, und ihre scheinbare Selbsteinsicht (im Gegensatz zum wirklichen Selbstverständnis) ist überzeugend. Das sind die „Einsichtsvollen“. Dem Phänomen der Einsicht  (compliance = Einsicht, Anerkennen, Unterwerfung) zu folgen, ist ein weiterer Widerspruch zwischen den Worten und den Taten des Alkoholikers.

Er scheint die Kritik anzunehmen und spricht ausführlich über seine eigenen Fehler. Aber seine Unfähigkeit, Worte in wirksame Taten umzusetzen, ist offensichtlich. Die unmittelbare Wirkung der Einsicht besteht darin, in anderen die Erwartung einer zukünftigen Besserung zu erwecken. Nachdem er sein Problem formuliert und den Beweis erbracht hat, daß er weiß, wie er es beseitigen kann, scheint der Alkoholiker in der Lage zu sein, wirksame Maßnahmen für sich selbst zu ergreifen, aber was er tut, gleicht niemals seinen Versprechungen.

Die Einsicht kann von der augenblicklichen Bereitschaft des Alkoholikers herrühren, Unannehmlichkeiten aus dem Wege zu gehen. Sein Stil wird geprägt von einem Abgleiten auf den Weg des geringsten Widerstandes, sowohl in seiner privaten Umwelt als auch an seinem Arbeitsplatz. Als ein geübter und hervorragender Vertreter des weichen Kurses, der bewußt die Alternative wählt, die das geringste Maß an Unannehmlichkeit im Augenblick verspricht, wenn er Entscheidungen, die gefällt werden müssen, gegenübersteht, ist der Alkoholiker uneins mit dem, was er und die anderen als den verantwortlichen Weg erkannt haben.

Sein Verhalten ist insofern voraussagbar, als er jede Runde in diesem Spiel des Ausweichens „gewinnt“. Im Zusammenhang mit AA ist sogar die Form dieser Einsicht vorgezeichnet, um die Unannehmlichkeiten möglichst klein zu halten; er benutzt den recht spezialisierten Wortschatz der AA und spricht über seine „Charakterfehler“ oder sagt, daß er mit dem Leben nicht fertig wird.

Dabei weiß er ganz genau, daß er sich, wenn er anders sprechen würde, den Unmut seiner AA-Freunde zuziehen und sich Unannehmlichkeiten bereiten würde. Seine Einsichten sind nur Lippenbekenntnisse gegenüber den Prinzipien, die ihm in Wirklichkeit die Erleichterung bringen könnten, derer er bedarf.

Das Sprechen über seine Fehler scheint für den Augenblick die Notwendigkeit zu beseitigen, etwas gegen sie zu tun. Was hier im Hintergrund arbeitet, ist ein schwaches Bewußtsein in ihm, das nach Wandlung drängt. Die Einsicht ist also im Grunde den anderen Abwehrmanövern darin ähnlich, daß sie dafür bestimmt ist, die volle Erfassung einer unannehmbaren Situation zu verhindern.

Hilfsmaßnahmen

Der Alkoholiker, der den trockenen Rausch hat, führt ein leeres Leben. Die Art seiner Erfahrungen in der Vergangenheit und die Art, wie er die Gegenwart erfährt, hindern ihn daran, die Erfüllung zu erreichen, die andere in ihrem Leben finden. Er ist offensichtlich außerordentlich begrenzt in seiner Fähigkeit zu wachsen, zu reifen und an den Möglichkeiten teilzuhaben, die das Leben bietet. Ihm fehlt die Frische und Ungezwungenheit (nicht Erregbarkeit), die wirklich nüchterne Alkoholiker haben. Sein Leben ist in der Tat ein geschlossenes System und seine Verhaltensweisen sind stereotyp, sich wiederholend und deshalb vorherbestimmbar.

Er besitzt nicht die Fähigkeit, aus den vielen möglichen Wegen des Handelns den einen auszuwählen, der für ihn am besten geeignet ist. Seine Auswahlmöglichkeiten sind gering und unfruchtbar, und er wird niemals jemanden damit überraschen, daß er sich selbst übertrifft. Vorhandene Beweise zeigen, daß er Demut lernen muß – daß es eine Kraft größer als er selbst gibt – bevor er wirkliche Nüchternheit erfahren kann.

Der Prozeß der Selbsternüchterung verlangt vom Alkoholiker, daß er ein ungewohntes Maß an Selbstdisziplin in sein Leben hineinbringt. Anfangs kann ihm ein diszipliniertes Verhalten in Bezug auf Ehrlichkeit, Geduld und Verantwortlichkeit lästig und mühsam erscheinen, weil er sich an eine Art zu leben gewöhnen muß, die ihm voll Willkür und Schwierigkeiten zu sein scheint. Der Endpunkt seiner Bemühungen um Selbstdisziplin wird jedoch die Steigerung seiner Fähigkeit sein, kurzfristige Unannehmlichkeiten und sogar recht schmerzhafte Umstände auf sich zu nehmen, wenn er an dem langfristigen Ziel einer echten, dauernden Nüchternheit arbeitet.

Er sollte ermutigt werden, sehr gründlich zu überlegen, ob die zwölf Schritte der AA für ihn noch Gültigkeit haben. Voller Hoffnung wird er anfangen, die ironische Torheit eines Alkoholikers richtig einzuschätzen, der glaubt, daß er plötzlich wieder mit seinem Leben fertig wird, dessen Gesundheit außer Frage steht, der es folglich auch nicht nötig hat, sein Leben einer Kraft, die größer ist als er selbst zu übergeben, der eine Gewissensinventur für überflüssig hält, da er selten – wenn überhaupt – im Unrecht ist, und der nicht länger vor der unbehaglichen Notwendigkeit steht, etwas wiedergutmachen zu müssen.

Wenn ihm einmal diese Ironie wirklich zu Bewußtsein kommt – daß er es ist, immer noch unkontrolliert, immer noch machtlos, der diese bemerkenswerte Heilung erfahren hat – dann kann er genug Demut in sich fühlen, um eine Wandlung wirklich zu wollen.

Dann ist der Zeitpunkt gekommen, daß die zwölf Schritte als ein lebensnotwendiger Teil seiner alkoholfreien Existenz aufgewertet werden. Der Alkoholiker wird natürlich bei der Erarbeitung jedes einzelnen Schrittes Hilfe brauchen. Diejenigen, die ihm helfen, sollten mit großer Sorgfalt die Wichtigkeit aller Schritte betonen, aber seine Aufmerksamkeit ganz besonders auf den dritten und den zehnten Schritt lenken. (Dritter Schritt: Wir faßten den Entschluß, unseren Willen und unser Leben der Sorge Gottes – wie wir ihn verstehen – anzuvertrauen. Zehnter Schritt: Wir machen eine tägliche Gewissensinventur und wenn wir unrecht haben, geben wir es sofort zu.)

Es scheint, daß der Alkoholiker es besonders nötig hat, wirklich einzusehen, daß er sein Leben allein nicht meistern kann und er muß lernen, sein Leben und seinen Willen Gott – wie er Ihn versteht – anzuvertrauen.

Weiterhin muß er lernen, Gedanken und Handlungen zu vermeiden, die ihn dazu verleiten könnten, sein Leben allein meistern zu wollen, indem er eine gründliche, tägliche Gewissensinventur macht und seine Fehler sofort zugibt.

Abschließend sei gesagt: Wenn der Alkoholiker selbst – oder die ihm am nächsten Stehenden – charakteristische Anzeichen eines trockenen Rausches in den Verhaltensweisen entdecken, sollte Hilfe gesucht werden, um einen wahrscheinlichen Rückfall in das Trinken zu verhindern.

R. J. Solberg, Hazelden, September 1968
Übersetzung: AA-Gruppe Köln II